Der Hund, auf den der deutsche Geist gekommen ist. Auch mit 92 hält Jürgen Habermas seine Stellung als Lordsiegelbewahrer der deutschen Staatsräson. Das Diskurssystem, das er etablierte, wird vom medialen Kollektiv beherrscht, Abweichler gecancelt. „Weltmacht Habermas“ titelte die ZEIT zu seinem 80. Geburtstag, und in der Tat gilt Jürgen Habermas als der bedeutendste deutsche Philosoph der Nachkriegszeit. Vielleicht auch als der bedeutendste Soziologe. Oder bedeutendste Sprachwissenschaftler. Oder bedeutendste Staatstheoretiker. So ganz genau weiß man das nicht, denn Jürgen Habermas macht alles immer im Plural: Welten, Wahrheiten, Politiken. Die Pluralisierung der Substantive ist so etwas wie ein Fetisch von ihm, um seinen technokratischen und langatmigen Ausführungen den Nimbus des Metaphysischen zu verleihen. Festlegung und Eindeutigkeit, so ist unschwer zu erraten, ist Habermas‘ Sache nicht. Sein Werk, so befand der luzide Michael Klonovsky in einem Bonmot, wurde in alle Weltsprachen übersetzt außer ins Deutsche.
Wer ihm den Titel als „bedeutendster Philosoph“ verliehen hat, ist unbekannt, dass er jedoch allenthalben Kopfnicken hervorruft, liegt weniger an seinen sozio-linguistisch-philosophischen Ausführungen als vielmehr an seiner Stellung als Lordsiegelbewahrer der deutschen Staatsräson. In der bundesrepublikanischen Blase aus universitären Gelehrten, staatlich geförderten Preiskomitees und Suhrkamp-Verlag nimmt Habermas insofern eine herausragende Stellung ein, als dass es fast keine Ehrung gibt, die ihm nicht zuteilwurde. Vom Theodor-W.-Adorno-Preis über den Geschwister-Scholl-Preis bis hin zum Großen Deutsch-Französischen Medienpreis wurde ihm alles verliehen, wofür sich die Blase selbst feiert. Wer mit ihm oder neben ihm auftrat, hatte es zu etwas gebracht. Die salbungsvollen Reden eines Frank-Walter Steinmeier oder die Aussage Heiko Maas‘, er sei wegen Auschwitz in die Politik gegangen, sind ohne das, was Habermas mit eiserner Faust als das gute Deutschland definierte, nicht denkbar. Seine Warnung vor einem wiedervereinigten Deutschland, das sich sofort in ein Viertes Reich verwandeln würde, ist weiterhin das Damokles-Schwert, unter dem sich Deutschland nur zu gerne den Brüsseler Moloch als sich selbst auflösender Nationalstaat andient.
Stolzes Geläutertsein als Qualifikation zur moralischen Instanz: Der Satz, dass, wer von sich behauptet, Europäer zu sein, meist ein Deutscher ist, beschreibt auch den Nukleus des Habermaschen Denkens sehr genau. Sein Vater trat bereits 1933 der NSDAP bei und er selbst war bis 1945 eifriger Jungvolkführer. Die Kollektivierung des als biografische Verfehlungen Empfundenen hat bei Habermas also dieselbe Wurzel wie bei Günter Grass. Erst das stolze Geläutertsein hat beide dann in den Rang versetzt, einen Blick voll Misstrauen und Abscheu auf die eigenen Bürger zu entwickeln und sich derart als moralische Instanzen gerieren zu können. Der Wunsch, nicht mehr Deutscher, sondern Europäer zu sein, war und ist dementsprechend groß. 2011 erschien das Habermas-Essay „Zur Verfassung Europas“, das man als ein Loblied auf eben diesen Brüsseler Moloch lesen kann. Habermas kommt in ihm zu dem Schluss, dass die EU ein „höherstufiges politisches Gemeinwesen“ sei, das einen „entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft“ darstelle. Kurzum: Den Traum vom Great Reset der demokratischen Nationen hin zu einer Technokraten-Weltregierung hat schon Jürgen Habermas den Davoser Welteliten vorgeträumt. Habermas war, das muss man neidlos anerkennen, der Meister aus Deutschland, der alles, was wir inzwischen Cancel Culture nennen, leise und ohne sich die Hände allzu schmutzig zu machen, einführte. Etliche gelehrte Leichen pflastern seinen Weg, die bekannteste dürfte die von Ernst Nolte sein, den Habermas mit seinem Netzwerk aus Professoren, Politikern und Journalisten über Kimme und Korn sauber erlegte.
Nach Habermas ist das Faktische nie die Wirklichkeit: Das Vergehen des Historikers Ernst Nolte war die Formulierung der These, es gebe eine Verbindung zwischen den Massenmorden der Bolschewiken und jenen der Nazis. Für Habermas war dies ein Frontalangriff auf die deutsche Staatsräson, in deren Mittelpunkt die Einmaligkeit des Holocaust zu stehen habe. Im berühmt gewordenen Historikerstreit von 1986, der die Karriere von insgesamt vier Historikern ins Abseits katapultierte, warf ihnen Habermas „mit Hilfe historischer Vergleiche makabre Aufrechnungen“ vor, wie sie „bisher nur in rechtsradikalen Kreisen zirkulierten“. Das musste reichen, um den Medien die Stichworte zu liefern, mit denen sie den Abschuss vornehmen konnten. Dabei wurde Jürgen Habermas berühmt für seine Diskursphilosophie, in der Herrschaftsfreiheit walten und sich das bessere Argument qua größerer Kraft durchsetzen solle. Habermas spielte dabei mit der Formel von der „normativen Kraft des Faktischen“, was auf den ersten Blick wie das entspannte Aushalten der Wirklichkeit klingt, die sich immer gegen Ideologien und Wolkenkuckucksheime durchzusetzen imstande ist. In Wahrheit ist es jedoch das genaue Gegenteil: Nach Habermas ist das Faktische nie die Wirklichkeit, sondern ausschließlich der Teil der Wirklichkeit, der im „Diskurs“ behandelt wird. Im medialen Diskurs entwickelt sie sich dann zu einer mit Machtanspruch ausgestatteten Norm, die über die Wirklichkeit herrschen soll. Nach Habermas‘ Auffassung „entscheiden nicht private Einsichten, sondern die im rational motivierten Einverständnis gebündelten Stellungnahmen aller, die an der öffentlichen Praxis des Austauschs von Gründen teilnehmen“. Das heißt ins Deutsche übersetzt: Die Einsichten des Individuums sind nebensächlich, entscheidend ist, was von ihnen im Durchlauf durch das mediale Kollektiv übrigbleibt. Nur was in den Medien und Universitäten verhandelt wird, darf Wirklichkeit beanspruchen. Der Kniff dabei, den Habermas dann folgerichtig auch gerne anwandte: Er sprach einfach denjenigen, die an der öffentlichen Praxis des Austausches teilnahmen, aber nicht die Habermasche Auffassung vertraten, das rational motivierte Einverständnis – also die Legitimation – ab. Flugs war der Korridor der Habermaschen Wirklichkeit wieder hergestellt.
Gnadenloser Diskurswächter: Keinesfalls zu unterschätzen in dem Diskurssystem, wie es Habermas und seine Schüler seit Jahrzehnten in Deutschland installiert haben, ist die Rolle der Verbände, der Wissenschaftler, der Ethikräte und der Journalisten, allen voran des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Sie sind das mediale Kollektiv, auf dem das Wirklichkeitssystem und eben auch der Machtanspruch eines Jürgen Habermas beruhen. Dieser Chor aus Einverständnis erschafft erst das Faktische, das dann zur Norm erhoben werden kann. Dass dieses System weder je herrschaftsfrei noch wirklichkeitsbasiert war, haben jüngst erst die Erfahrungen mit dem Sars-CoV-2-Virus gezeigt. Das Habermasche System ist zu einer „faktischen Kraft des Kontrafaktischen“ geworden, dessen Durchsetzung nur durch Verschweigen, Zensur, Rauswurf und Delegitimation überhaupt noch funktioniert. Habermas geriert sich zwar gerne als der Philosoph des herrschaftsfreien Diskurses und hatte damit unter den Linksintellektuellen von RAF-Sympathisanten bis ZEIT-Abonnenten großen Erfolg, in Wahrheit aber ist er der Philosoph, der Kommunikation als Herrschaftsinstrument erst perfektioniert hat, frei nach Walter Ulbricht: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Die nachkriegsdeutsche Gier nach Harmlosigkeit kulminierte in der Person Habermas mit der Rolle des gnadenlosen Diskurswächters, eine Kombination, die seitdem die meisten deutschen Kulturschaffenden auszeichnet.
„Starnberger Ajatollah“: Dass es Jürgen Habermas immer um Diskurshoheit und Meinungshegemonie ging, aber nie um die Wirklichkeit, machen jüngst zwei in der Öffentlichkeit wenig beachtete Texte von ihm deutlich. Da ist zum einen der vom 9. September 2021 datierte Beitrag im Schweizer Philosophie Magazin, dem der inzwischen 92-Jährige, vielleicht um seine eigene gesellschaftliche Relevanz aus den 1980er Jahren zu reanimieren, den Titel „Der neue Historikerstreit“ gab. Worum es geht: Schon seit einigen Jahren hat die Auffassung von der Einmaligkeit des Holocaust Risse bekommen. Diesmal jedoch nicht von Historikern, denen Habermas Revanchismus unterstellt, sondern von Migranten und Pro-Palästina-Aktivisten. Sie sehen das Existenzrecht Israels in der Einmaligkeit des Holocaust begründet. Reihte man nun den Holocaust in die Abfolge der kolonialen Verbrechen ein, könnte endlich mit dem Boykott Israels Ernst gemacht werden. Genau dieses Ansinnen winkt Jürgen Habermas mit seinem Beitrag im Philosophie Magazin nun durch. Im Licht der Migrationsgeschichte – man könnte auch sagen: der letzten sechs Jahre – müsse sich die politische Kultur Deutschlands „so erweitern, dass sich Angehörige anderer kultureller Lebensformen mit ihrem Erbe und gegebenenfalls auch mit ihrer Leidensgeschichte darin wiedererkennen können“. Warum man das muss, führt der Starnberger Ajatollah (Peter Sloterdijk über Habermas) nicht weiter aus. Warum sollte er auch? Er verkleistert doch nur das mit ernstem philosophischem Blick, was bereits die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz (SPD) während der Zeit der offenen Grenzen formulierte: „Unser Zusammenleben muss täglich neu ausgehandelt werden.“
Alle demokratischen und diskursiven Sicherungen durchgebrannt:
Es ist die Stärke der Habermaschen Diskursphilosophie, sich gewünschten Begebenheiten geschmeidig anpassen zu können nach dem Motto: „Hier steh ich nun, ich kann auch anders.“ Wichtiger als das, was gesagt wird, ist eben, wer es sagt. Sind es die Richtigen, über deren Buntheit wir uns alle freuen müssen und die über jeden Zweifel erhaben sind, wird die deutsche Staatsräson eben kurz mal über Bord geworfen. Sind’s die Falschen, werden halt alle Register der Cancel Culture gezogen. Das mag auf den ersten Blick verwirrend sein, reiht sich aber nahtlos ein in die vielen geistigen Dammbrüche, die Deutschland seit 2015 erlebt. Ob es nun die Habermas-Schülerin Carolin Emcke ist („Dass es auch Flucht in die DDR gegeben hat, ist vielen nicht mehr gegenwärtig“), die auf dem Grünen-Parteitag im Juni 2021 Wissenschaftlern im Allgemeinen und Klimawissenschaftlern im Besonderen in unserer „von allen Seiten bedrohten Demokratie“ (damit meint sie die Corona-Maßnahmen-Gegner) ein ähnliches Schicksal wie den Juden voraussagt. Oder ob es eine Nemi El-Hassan ist, die ja auch nur ihr Erbe und ihre eigene Leidensgeschichte in deutschen Verhältnissen wiedererkannt haben möchte und deswegen für die Zerstörung Israels auf die Straße geht. Sie alle werkeln an dem Faktischen, das unsere Wirklichkeit so normieren soll, dass eine „politisch verfasste Weltgesellschaft“ endlich möglich wird. Auf dem Weg hin zu dieser Weltgesellschaft haben die Corona-Maßnahmen nochmals einen kräftigen Schub geleistet. Allein der Wohlstandsabbau durch Panik und Lockdowns hat dem alternden Westen endlich die Möglichkeit eingeräumt, auch seine Leitfunktion für Freiheit und Demokratie aufzugeben. Und nach Habermas ist das auch gut so. Sein bisher letzter Text in diesem Jahr erschien in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ ebenfalls im September und trägt den Titel „Corona und der Schutz des Lebens“. Es ist ein erschütternder Text eines Mannes, dem zum Lebensende alle demokratischen und diskursiven Sicherungen durchbrennen.
Zutiefst technokratischer, fast menschenfeindlicher Duktus: Die Frage, die Habermas in einer Art juristischem Selbstgespräch zu stellen vorgibt, ist die nach der Legitimation grundrechtseinschränkender Maßnahmen durch den Staat. Aber es sind nicht vornehmlich die Grundrechte, die ihn interessieren, nicht die Freiheit, nicht die Selbstbestimmung, nicht die Würde des Einzelnen; was ihn allein interessiert, ist die „rechtsphilosophische Frage, ob der demokratische Rechtsstaat Politiken verfolgen darf, mit denen er vermeidbare Infektions- und Todeszahlen in Kauf nimmt.“ Die sprachliche Unschärfe von „vermeidbaren Todeszahlen“ gleich zu Beginn des Textes weist schon auf den zutiefst technokratischen, fast menschenfeindlichen Duktus von Habermas‘ Denken hin. Vermeiden lassen sich Todesfälle, aber keine Todeszahlen. Davon abgesehen dreht die Frage, ob der Staat mit seiner Politik vermeidbare Todesfälle überhaupt zulassen darf, alle staatspolitischen Annahmen, die bisher galten, um. Nicht der Staat hat seine Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen, sondern nach Habermas steht im Gegenteil der Staat in der Pflicht, vermeidbare Todesfälle konsequent, kompromisslos und mit aller Härte zu unterbinden. Unterlassung würde ihn schuldig machen. Diese Umdrehung gelingt Habermas mit dem Kniff, dass er kurzerhand den Kriegszustand gegen das Virus ausruft, denn „wie im Krieg besteht das strategische Ziel in der möglichst schnellen Bezwingung des Gegners bei möglichst geringen eigenen Verlusten.“ Auch hier fällt die eklatante Unschärfe auf, ganz so als seien Viren dazu angetreten, den Menschen zu bezwingen. Dass dem nicht so ist, Menschen und Viren schon seit Jahrtausenden ohne Lockdowns und Zwangsmaßnahmen – mal gut, mal schlecht – zusammenleben und kein Virus ein Interesse daran hat, seinen Wirt zu töten, ist das eine. Dass jenseits von Immunitäten bisher ebenfalls keine Strategie existiert, Viren zu bezwingen und sie für immer vom Erdboden verschwinden zu lassen, ist das andere.
Wirklichkeit gibt es bei Habermas immer nur in Form von Machtausübung:
Die kriegerische Metaphorik soll bei Habermas auch nur den Boden dafür bereiten, den Staat auf jedes nur denkbare Durchgriffsrecht zu verpflichten. Und so bedauert Habermas, „dass in der Bundesrepublik seinerzeit das Notstandsrecht auf den Kriegsfall und die militärischen Erfordernisse begrenzt worden ist, sodass eine Pandemie von diesen Regelungen nicht erfasst wird.“ Dass es bisher ohne Krieg auch gar nicht die Aufgabe des Staates war, Menschen in ihrem selbstbestimmten Leben auf Teufel komm raus vor dem Tod schützen zu müssen, ist zu Habermas ganz offensichtlich noch nicht vorgedrungen. Aber man spürt förmlich, wie es ihm in den Fingern juckt, endlich derjenige sein zu dürfen, der über den Notstand bestimmt.
Der gesamte Text strotzt vor Unschärfen, Fehlannahmen und Auslassungen. Kein Wort zu Ländern wie Schweden, deren Sterbezahlen ganz ohne Notstandsverordnungen einen ähnlichen Verlauf hatten wie Deutschland. Kein Wort zu Neuseeland oder Australien, die sich in ihrer No-Covid-Strategie und ihrem „Krieg gegen das Virus“ restlos verrannt und in Militärdiktaturen verwandelt haben. Weder beantwortet Habermas die Frage, ob die Überwindung des demokratischen Rechtsstaats zugunsten des Lebensschutzes nicht auch für andere Infektionskrankheiten gelten müsse, noch macht er sich die Mühe, zu definieren, welche messbaren Parameter die Beendigung dieses Notstandes nach sich zu ziehen hätten. Seine Lust an einer Lebens- und Gesundheitsdiktatur ist so maßlos und selbstvergessen, dass sie wie eine Blaupause wirkt, die man problemlos auch auf Grippeviren, Mumps und den Klimaschutz, der bekanntlich ebenfalls Lebensschutz ist, anlegen könnte.
Überraschend ist die Maßlosigkeit, mit der Habermas das Herrschende zur Norm erklärt, nicht. Sein Denken kreiste immer um den Absolutheitsanspruch des herrschenden Diskurses, weswegen es ihm so wichtig war, selbst als der Hüter der Schwelle aufzutreten, der die Teilnehmer des Diskurses einlässt oder abweist. Die von Habermas wahrgenommene Einmütigkeit, mit der die akademischen, politischen und medialen Eliten geschlossen hinter den Corona-Maßnahmen der Regierung stehen, verleiht ihm die Sicherheit, dass er ihre Normierungen nur noch staatspolitisch-philosophisch unterfüttern muss. Wirklichkeit gibt und gab es bei Habermas immer nur in Form von Machtausübung.
So scheint Habermas mit 92 Jahren und seinem Wunsch nach einer Corona-Diktatur endlich wieder ganz bei sich angekommen zu sein. Es ist das bekannte Phänomen, dass im hohen Alter die in frühester Jugend verinnerlichten Werte und Anschauungen mit Macht erneut an die Oberfläche drängen.